VER(W)IRRT

Ich sah den Gang entlang, in dem ich stand. Er war nicht sehr lang. Vielleicht acht oder zehn Meter, ich war noch nie gut im Schätzen. Ich stand mit dem Rücken zu einem Aufzug, der für Lasten konzipiert und wohl defekt war. Die Tür des Aufzugs war blau. In ihr war hochkant ein längliches Milchglasfenster eingelassen, welches von Chromleisten umrahmt wurde. Am anderen Ende des Ganges stand eine große Vase vor einer Wand aus quadratischen, ebenfalls von Chromleisten umrandeten, Milchglasfenstern. Diese waren dicker als das des Aufzugs und ließen deswegen nur grob erkennen, was sich auf der anderen Seite befand. Von außen wirkten die Fenster sehr markant, da sie das Treppenhaus über seine gesamte Höhe und Breite zierten. In der Vase stand ein großer Strauß Blumen, von denen einige den Kopf hängen ließen. Ich konnte nicht genau erkennen um welche Blumen es sich im Einzelnen handelte, denn es war bereits spät und das Licht der Straßenlaterne vermochte nicht so recht gegen die dicken Gläser anzukommen. Ein Teil des Gangs stand im Halbschatten der Treppe, die kurz oberhalb meines Kopfes in die niedrige Decke mündete. Ich blickte nach unten auf die Treppe die vom Erdgeschoss bis zu meinen Füßen hoch führte. Zwischen den beiden Schuhen drängte sich mir das Muster der Fliesen auf. Sie waren braun und mit ockerfarbenen Verzierungen übersät. Ein krasser Kontrast zu der weiß gestrichenen Wand, in die gelbe Türstöcke eingelassen waren. Die Türen waren einheitlich braun gestrichen. Die Maserung im Holz sah ganz nett aus, war aber wahrscheinlich nur gemalt, um einen hochwertigeren Eindruck zu machen. Die Tür neben der ich stand öffnete sich. Ein fünf Quadratmeter großer, trapezförmiger Teil des Gangs und die gegenüberliegende Wand wurden von künstlichem Licht erhellt. Ich kniff meine schmerzenden Augen zusammen, die mich wieder daran erinnerten wie lange ich hier gestanden haben musste. Alleine, in der Dunkelheit. Die Stimme, die mich fragte, was ich wolle, klang betont feminin und gehörte zu einer großen Frau mittleren Alters. Die Stimme klang fremd, dennoch nicht unangenehm. Ich wollte ihr Gesicht genauer betrachten, doch das Licht war immer noch zu hell für meine Augen. Ich fühlte mich aufgrund meiner geschwächten Sehkraft ein wenig bedrängt. Wer war diese Frau? Kannte ich sie? Warum hatte sie geöffnet? Etwa weil ich geklingelt hatte? Hatte ich überhaupt geklingelt? Ich stieg die Treppen hinab, ohne ein Wort zu sagen. Die Frau rief mir noch etwas hinterher, doch ich hörte weg, aus Angst vor einer Beleidigung die mich hart treffen könnte. Ich stieß die Tür ins Freie auf. Der eisige Atem einer kalten Winternacht, blies mir ins Gesicht, kroch mir in die Nase, in meine gereizten Augenhöhlen und umschloss meine Hände wie zwei tiefblaue Stahlfesseln. Vor meinen Augen erstreckte sich ein Teppich aus weißer Seide. Perfekt und doch gehörte er hierher. Drei Stufen dauerte es bevor ich in den Fußstapfen anderer wandeln konnte. Ich lief den Fußweg entlang, immer geradeaus, von einer Straßenlaterne zur nächsten. Kleine Etappen erleichtern das Weiterkommen, ohne sich kurz vor dem Ziel zu verlieren. Unbeirrbar bog ich um Ecken, überquerte Straßen, ohne zu wissen, wohin ich wollte. Fast war ich am Stadtrand angekommen, da fiel mir ein Haus ins Auge. Von vorne sah es aus wie ein Quadratbau, dem man einen Giebel aufgesetzt hatte. Ich stand vor dem schmiedeeisernen Zaun, der das große Grundstück umgab. Die Beete und der Rasen waren unter einer dicken Schicht Puderzucker zum Schlafen gebracht. Im Wintergarten befanden sich Menschen, die miteinander redeten, tanzten oder sich umarmten. Gut möglich, dass ich einige von ihnen kannte, doch das konnte ich auf diese Entfernung nicht mit Bestimmtheit sagen. In mehreren anderen Zimmern des Hauses brannte Licht. Der Geräuschpegel wies auf ein großes Fest hin. Ich entschloss mich zu klingeln und mir das Ganze von innen anzusehen. Die Tür stand offen. Ich durchschritt einen Bogen aus speziell dafür angefertigtem Baudraht, an dem sich ein Rosenstock über die Jahre hoch geschlungen hatte. Entlang der überdimensionierten Einfahrt hatte man riesige Terracottavasen aufgestellt. Die Einfahrt führte mich zu einem üppig dimensionierten Eingang und einer Doppelgarage, die neben dem Haus stand. Der Bereich vor der Eingangstür war überdacht von einer Konstruktion aus frisch riechendem Eichenholz. Ich klingelte. Mehrmals und lange, denn sie schienen mich nicht zu hören. Zehn Minuten stand ich dort, bevor ich die Initiative ergriff und mich auf den Weg zum Wintergarten machte, auf die andere Seite des Hauses. Es tat mir leid, dass ich den frischen Schnee mit meinen zögerlichen Schritten störte. Ich klopfte an das Glas, an dessen Rändern sich schon Schneeblumen gesammelt hatten. Ein bekanntes Gesicht trat ans Fenster. Ich konnte seine Erscheinung leider nicht zuordnen, doch ich kannte ihn. Er öffnete eine Schiebetür und bat mich mit einer Geste einzutreten. Bevor ich zu einer Begrüßung ausholen konnte hatte er mich bereits aufgeklärt, dass dies eigentlich eine geschlossene Gesellschaft sei, mit Kleiderordnung und so weiter. Ich hörte ihm mit halbem Ohr zu, während ich den Wintergarten und das daran angrenzende Zimmer genauer betrachtete. Im Wintergarten befand sich ein Glastisch, groß genug das vier Leute gemütlich daran essen konnten. In den Ecken standen eine jeweils unterschiedliche Zahl von Pflanzen und größeren Blumengestecken. Ein Duft von Narzissen überschattet von Rauch, vermischt mit ein klein wenig Alkohol erfüllte meine Lungen als die Kälte aus meiner Nase entwichen war. Ich ließ meinen Blick weiter schwenken. Ein paar von den Gesichtern, die mich anschauten, kamen mir bekannt vor. Der Großteil sagte mir gar nichts. Es schien eine ausgelassene Stimmung vorzuherrschen. Eine Schiebetür aus Glas trennte den Wintergarten von dem was ich für ein Wohnzimmer hielt. Es war warm eingerichtet mit verschiedenen, elegant anmutenden Holzmöbeln. Ein großer massiver Tisch mit acht Stühlen rund herum. Eine Couchgarnitur mit Lederbezug. Ein Hifi-Rack das mit dem passenden Bücherregal zusammen eine ganze Wand einnahm. Der Parkettboden wurde fast gänzlich bedeckt von dicken warmen Perserteppichen. An den Wänden hingen vereinzelt Bilder der verschiedensten Stile und Epochen. Ein Bild der abstrakten Malerei erregte meine Aufmerksamkeit denn es war fast gänzlich in dunklen Blau- und Schwarztönen gehalten. Ein unsanfter Stoß in meinen Rücken entriss mich meiner Beobachtung. „Na, was ist jetzt? Bleibst du oder nicht?“ Ich schaute in sein verärgertes Gesicht. Mich beschlich wieder dieses Gefühl von Angst. Angst vor…. Ablehnung. Wieder trat ich hinaus ins Freie. Was sollte ich tun? Wie hieß er eigentlich? War es kälter geworden? Ich denke ich habe stark geschwitzt. Der Wintergarten glich einem Treibhaus. Ich sah mich um. In diesem Garten gab es nichts außer meinen Fußstapfen. Meine Fußstapfen. Ich wollte ihnen zurück zur Einfahrt folgen, doch ich hielt inne. Ich drehte mich um. Ein Haus genau am Stadtrand. Mein Blick verlor sich im Schwarz der Nacht, welche das Feld hinter diesem schmiedeeisernen Zaun regierte. Langsam, mit bedachten Schritten, näherte ich mich dem Zaun. Nachdem ich einige Zeit vor ihm verharrt hatte, rang ich mich dazu durch über ihn hinweg zu steigen. Dank meiner Größe bereitete mir der Kletterakt keine großen Mühen. Noch nie ist mir diese Weite so bewusst geworden. Ich ging los. Ohne Ziel, wie immer. Lange Zeit. Ich fühlte mich frei, während ich die Sterne beobachtete. Dieses Feld war so absolut leer und glatt, es war schier beeindruckend. Kein Graben, kein Jägerstand, kein Wald, nicht mal ein einzelner Baum. Ich wollte zurückschauen auf das Haus und die Stadt, die ich zurückgelassen hatte. Doch als ich mich umdrehte, war weit und breit nichts mehr zu sehen. Ich wusste, dies ist der Platz an dem ich bleiben wollte. Ich setzte mich in den Schneidersitz, schaute nach oben in die Sterne. So klar wie in dieser Nacht die Sterne, hatten mein Auge noch nie gesehen, hatten meine Ohren sich noch nie der Stille geöffnet. Nach und nach wurde ich müde, wurden meine Lider schwer. Ich zog meinen Pullover aus und knüllte ihn als Kopfkissen zusammen. Auf meiner linken Seite, beide Hände unter meinen Pullover gesteckt, die Beine angewinkelt und nach oben gezogen. So lag ich lange Zeit da. Bevor ich einschlief, kam mir noch der Gedanke, ich sollte aufstehen und etwas in den Schnee schreiben. Eine Erklärung, ein Statement, eine Nachricht oder ähnliches. Durch meine halb geschlossenen Augenlider beobachte ich meine Hand, die blau angelaufen war. Ich konnte sie kaum noch bewegen. Warum tat sie nicht weh? Warum tat mir nichts weh? Sollte es so sein? Wahrscheinlich! Mein Atem flachte ab. Stetig aber unaufhaltsam. Ich schluckte meine Angst hinunter, und nahm ein letztes Mal einen kräftigen Zug des eisigen Atems, bevor er mich ganz ausfüllte.