Ruheraum

Er war froh den Administrator zu sehen. Sie kannten sich schon lange und hatten sich nicht selten den einen oder anderen Schwank aus ihrer Jugend erzählt, sei es über die schaumigen Ränder ihrer Krüge, oder trunken auf dem Nachhauseweg. Sie beide waren nie befreundet. Dennoch fehlte Yediaf die stumme Vertrautheit, die zwischen ihnen in diesen Stunden geherrscht hatte und durch die Likör getränkte Luft gesickert war. Leise klapperte das kaputte Scharnier des Klemmbretts unter dem nervösen Ringfinger des Administrators und geduldig erklärte Yediaf die Einrichtung und die improvisierten Änderungen, die unter seiner Leitung vorgenommen wurden. Sporadisch tropften Worte aus dem Mund des Administrators. Beeindruckend, fantastisch und spannend waren darunter.

Im weiteren Verlauf seines Besuchs sprach der Administrator mit dem Rest der Belegschaft. Bäcker Angestellte einer Tankstelle, Kinderpfleger*innen und Verwaltungsbeschäftigte. Sie alle leisteten harte Arbeit, Schichtdienst, etliche Überstunden. Alles außerhalb der eigenen Komfortzone. Sogar ein Beamter war unter ihnen. Er leistete Tonnendienst und schien überaus zufrieden mit seiner Zuteilung.

Besonders Yediafs Leistung und Einsatz wurden von allen lobend erwähnt. Beispielhaft und inspirierend ginge er mit Beispiel voran. Er war sich für nichts zu schade und hatte für alle und jeden aufmunternde Worte und Tipps übrig, welche die harte Arbeit ein wenig einfacher machten. Ein gutes Händchen für die Kleinen schien er zu haben, die sich reihenweise um ihn scharten, wann auch immer er den Gang entlang kam, oder über den improvisierten Spielplatz lief. Ganz ohne Zuckerwerk, oder sonstige Überzeugungsmittel, wie andere sie nötig hatten. Die Kinder suchten seine Gegenwart, buhlten um seine Aufmerksamkeit und suchten Trost und Zuflucht bei ihm. Yediaf verstand sich einfach mit allen und jedem, vor allem aber mit den Kindern.

Es wäre wohl er, so waren sich alle seine Kollegen sicher, der in dieser schwierigen Situation der Kleber wäre, der alles zusammenhält, in der kalten Unwirklichkeit der ausgedienten Lokhalle.

“Nun,…”, in einer unbeholfenen Bewegung breitete der Administrator beide Arme aus und ließ sie samt Klemmbrett klackernd gegen seine Hüfte fallen. Begeistert schloss er er mit einem schnellen:

“Zeigen Sie mir den Rest!”

Der Weg in den hinteren Bereich der Halle war für Yediaf immer ein schwerer gewesen. Doch niemals so schwer wie heute. Zwischen den alten aufgetürmten Containern, all dem zusammengeworfenen Schutt, der Zerstörung und der Halderei, wurden seine Schritte schwerer und träger. Der Ruheraum. Wie Hohn klingt der Name bis heute in seinen Ohren. Aus der Not geboren, schien das Wort das volle Gewicht des kleinen Körpers aufzuwiegen, den er nach hinten trug. Immer und immer wieder. Vorbei am Müll und Geröll. Gemeint als temporärer Abschied und Trost für die Erwachsenen, die Verantwortungsträger, die Pflegenden und Liebenden. Häufig fragten sie nach, ob sich der Ruheraum denn bewähren würde? Es ist ruhig, war stets Yediafs Antwort, und alle waren zufrieden. Nun würde er sich der Wahrheit und seiner eigenen Lüge stellen müssen. Das Echo seiner schweren Stiefel auf dem vom Salz angefressenen Beton überschlug sich mehr und mehr in seinen Ohren und überlagerte die entfernten Einschläge des anhaltenden Trommelfeuers. Wie er in diese ekelhafte Lage kommen konnte hatte er sich schon lange nicht mehr gefragt. In gewisser Hinsicht fühlte er sich erleichtert, dass es bald vorbei sein würde.

“Der… ähm… Großteil des… medizinischen Equipments lagert dort… hinter der Triage.”

Mehr eingesaugt als ausgesprochen blieb ihm das letzte Wort im Hals stecken. Die Hand, die gerade noch auf Röntgengeräte und Rollwägen gezeigt hatte, schnellte an sein Gesicht. Mit soviel Gewalt, wie er aufbringen konnte, presste er seinen Mund zu. Heiß und nass überspülten Tränen seine weißgepressten Knöchel. Aus schmalen Höhlen blickten wässrige Augen wild zwischen dem Schutt und dem in Entsetzen gebadetes Gesicht des Administrators hin und her. An Lydians Ohren drang kein Geräusch mehr. Nicht das Klackern des Bestecks, nicht das entsetzte Einatmen des Administrators und kein Trommelfeuer. Nur der sanfte Hauch des letzten Atems der Kinder, die er in den Ruheraum gebracht hatte und der Knall des Klemmbretts, als es auf den kalten Boden fiel.